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Der Reiz der Großstadt und ein bisschen Melancholie

Ich sitze im Bus und die dämmrige Landschaft zieht an mir vorbei. Nach zwei tollen Tagen in Santa Cruz bin ich auf dem Rückweg nach Comarapa. So richtig Freude kommt beim Gedanken an mein Einsiedlerdasein dort nicht auf. Fern von der bunten Großstadt, den anderen Freiwilligen, Chrissi und ihrer irgendwie liebenswerten Familie. Am Samstag nach der Ankunft sprudelten erstmal die angestauten Worte heraus, worunter Chrissi dann leiden musste. Bei ihr war jedoch auch einiges passiert, und so plapperten und lachten wir den halben Samstag durch: Über den Missbrauch von Chrissis Ärmeln als Rotzrolle, die Deutschlernversuche ihrer Gastfamilie und Klopapierengpässe. Chrissis Gastbruder schlappte mit uns durch ein riesiges amerikanisches Kommerzkolosseum, die "Mall". Das Einzige, das hier fehlte, waren die Menschen. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass José Normalbolivianer für diese Spielereien Geld locker hat.Was Abi - so nennen wir Chrissis Gastbruder aufgrund seines etwas exotischen Vornamens- uns über seinen Onkel erzählte, ließ uns die Haare zu Berge stehen: Sein Onkel hat sechs Frauen mit entsprechenden Kindern - gleichzeitig! Gäbe es hier Kindergeld, der Mann hätte ausgesorgt... Abends düsten wir mit Sandra ins Zentrum bzw. erst fünfmal darum herum, bis wir die gewünschte Bar, das Duda, gefunden hatten. Ich musste grinsen, als Sandra beim Fragen nach dem Weg mehrmals laut "DUDA!" aus dem Autofenster brüllte. Stellt euch mal vor, euch würde jemand in Deutschland sowas entgegenbrüllen. :) Die Lokalität mutete echt fancy an: Tennisschläger an der Wand, ein von der Decke baumelndes Fahrrad und ein mit alten deutschen Strickzeitschriften tapeziertes Klo. Zunächst gesellten sich einer von Sandras vielen Cousins und ein äußerst bewegungsfreudiger Freund von ihr zu uns. Zu meiner großen Freude - und das lag nicht (nur) an den konsumierten Erfrischungsgetränken- liefen noch einige der anderen Freiwilligen auf. Im Laufe des Abends fuhren wir noch zu neunt Auto und sangen Karaoke. Die arme Chrissi musste am Sonntag in der Früh in ihrem Kinderheim antanzen und so vergammelten wir den restlichen Sonntag. Montag stand ein Treffen mit Toti, unserer Koordinatorin an, um die Lage zu analysieren (gemütlich im Cafe, versteht sich :) ).
Ja, und hier bin ich. Im mittlerweile dunklen Bus, nachdenkend über die letzten zwei Wochen. Über den fanatischen Bruder von Chrissis Gastvater, der uns mit aller Gewalt missionieren wollte ("Ihr müsst an das Jenseits denken! Himmel oder Hölle, das entscheidet sich jetzt!"). Über Gewohnheiten, die man annimmt (ungeschminkt rumlaufen) und welche, die man ablegt (vegan leben). Über die Erwartungen, die man sich gemacht hat, und die Realität. Wir werden hier keine Felsen verrücken. Vielleicht aber ein paar Kiesel mitnehmen.

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Wann hat das eigentlich angefangen, dass sich keine:r mehr festlegen will? Alle Optionen, Menschen und Beziehungen ganz offen ? Reicht eine Person nicht oder wollen sie alles haben oder die Möglichkeit (und das damit einhergehende Gefühl), alles haben zu können?  In mein Herz und meinen Kopf passt für eine tiefe Beziehung zueinander (und wieso sollte ich etwas darunter wollen?) maximal eine Person.  Wieso sollte ich eine beliebige Aktivität mit jemand anderem teilen wollen, wenn ich sicher weiß, dass ich sie ganz wunderbar mit dieser einen bestimmten Person teilen kann? Dass wir gut beim Reden, Wandern, Rumalbern oder im Dunklen, Kalten grummelig zusammen nach Hause Stapfen harmonieren?  Ich habe ja, außer wenn ich muss, auch nicht freiwillig mehr als eine Arbeitsstelle, Handynummer, mehr als ein Bett,  oder feiere meinen Geburtstag mehr als einmal. Weil die schönsten Dinge (okay, diese Argumentation greift bei der Arbeitsstelle nicht so ganz) eben nur im Original schön sind. Weswegen
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