Wer sagt, was ich nicht fragen darf? Wer zensiert meine Meinung und bringt mich zum Schweigen? Das Patriarchat, okay, aber damit würde ich es mir etwas zu einfach machen. Selten hat mir jemand ins Gesicht gesagt, dass, was ich sage, dumm war oder ich kein Recht habe, überhaupt zu sprechen. Dennoch tue ich es nicht. Warum?
Da sind Gebote in mir, die sind absoluter als jeder Gesetzestext. Ungeschrieben Normen und Regeln, die Schrecken einjagen, wenn ich auch nur mit dem Gedanken spiele, sie zu übertreten. Ciao Leben. Was genau passieren würde, das kann ich nicht beschreiben, aber es würde sicher eine Schmach bedeuten. Nun bin ich 30 Jahre alt und trage noch immer Gebote aus Teenagerzeiten mit mir rum und, schlimmer noch, halte mich an sie. Weil ich sie für gültig befinde.
Sei nett zu anderen und hart zu dir selbst.
Widersprich nicht.
Gib anderen stets ein gutes Gefühl.
Hör ihnen zu.
Sei unkompliziert.
Kauf nur so viel, wie du brauchst.
Sei konsistent.
Mach keine Probleme. Beschwer dich nicht.
Sei nicht zu laut.
Nimm nicht zu viel Platz ein. (Was schwer ist, da ich meinen Körper trotz vielen Versuchen noch immer nicht zusammenklappen kann wie einen Teleskoplaufstock.)
Lächle.
Hab Verständnis.
Stell deinen eigenen Willen zurück.
Stell nicht zu hohe Ansprüche.
Stell am besten gar keine Ansprüche.
Dass ich noch atmen darf, ist erstaunlich. Aber bitte nicht zu laut und nur so, dass noch genügend Sauerstoff für die anderen übrig bleibt.
Das Problem ist nicht, dass ich diese Gedanken habe, sondern wir alle, und dass sie dermaßen unverrückbar unsere Erziehung bestimmen, dass wir ihnen auch im mittleren Erwachsenenalter nicht entkommen können. Oder ich zumindest.
Ja, manche von ihnen sind in manchen Situationen nützlich, zum Beispiel im Fußballstadion. Da stellt man besser nicht den Anspruch auf freundliche und gewaltfreie Kommunikation mit den gegnerischen Fans. Ja, Torsten, du darfst mich einen Hurensohn nennen, das ist hier und heute mal okay (das ist wahrscheinlich auch der Reiz des Stadionsbesuchs, da darf man mal richtig den dicken Micha markieren). Aber wenn sie immer, überall und erbarmungslos gelten, bleibt nur noch ein sehr schmaler Korridor des Sag- und Tubaren. Sie schnüren mir die Luft ab.
Ich, und ich vermute, ihr auch, will frei sein und sagen dürfen (ja, ganz freundlich und vorsichtig und konstruktiv und eingebettet in zwei weiche Brothälften positives Feedback), wenn mich etwas verletzt, stört oder etwas nicht rund läuft. Wenn etwas Verbesserungspotenzial hat. Oder einfach Mist ist. Ich bin ja genauso manchmal Mist.
Wir sollten alle auch mal Mist sein, fertig aussehen, unaufmerksam sein, etwas nicht schaffen, unsere Meinung sagen, dagegen sein oder gar nichts sein dürfen. Ich brauche keine Maschinenfreund:innen. Dazu habe ich meinen Wasserkocher. Der bereitet mir schnell, (relativ) leise und ohne Ansprüche zu stellen das Heißwasser. Aber mich unterhalten, ihn sehen, mich verbunden fühlen und eine andere Perspektive bekommen kann ich mit ihm nicht.
Sei du selbst und dann schauen wir, was wir damit machen. Dann kann ich auch ich selbst sein und keine:r muss Angst haben, zu viel, falsch oder zu anspruchsvoll zu sein.
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