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Brief ins Schweigen

 Liebes Virus,

nun wird ja seit knapp einem Jahr eine ganze Menge über dich gesprochen, jedoch nur wenig mit dir. Wie ist das eigentlich so? Ich stelle es mir recht frustrierend vor. Alle glauben, dich zu kennen, ständig kommt irgendeine neue Info über dich um die Ecke (von denen sich viele als falsch herausstellen), es wird gelästert und du wirst zur Begründung für so ziemlich jedes Elend herangezogen. Dabei bist du ja eigentlich ein ganz normales kleines Virus, so wie alle anderen deiner zigtausend (Millionen? Milliarden?) Kolleginnen. Oder doch nicht?

Wie kam das eigentlich, dass du so groß rauskamst? Warst du einfach hartnäckiger und ehrgeiziger als deine Mitviren? Wolltest du "ins Ausland gehen", Erfahrung auf dem internationalen Parkett sammeln? Menschen aller Altersgruppen und Ethnien ansprechen? (Sehr löblich.) Hättest du dir das jemals träumen lassen, dass du die Titelseiten und Schlagzeilen beherrschst wie keine andere? Oder hattest du dir vielleicht insgeheim genau das erhofft? (Das wiederum will ich nicht hoffen.)

Dass du vielen Menschen eine Menge Kummer und manchen sogar den Tod beschert hast, hast du wahrscheinlich inzwischen mitbekommen. Ich weigere mich aber, dich zu verfluchen. Denn wenn ich wütend auf dich werde, räume ich dir eine Macht über mich ein, die ich dir nicht geben möchte. Ich will dich verstehen. 

Warum, Corona? Was ist dein Plan? Was willst du erreichen? 

Hast du denn irgendwelche Vorteile? Meine anfängliche Hoffnung, die Umwelt und vor allem der Schadstoffausstoß profitierten von dir, zerstreute sich bald. Dazu muss man nur eine handelsübliche Straße beobachten. Dass wir als Gesellschaft zusammenrücken, wie es im ersten Shutdown immer hieß: Ähäm. Eher im Gegenteil, glaube ich. Die neue Häuslichkeit ist auch weniger sexy, wenn sie zur neuen Häus-Lern-Arbeit-Schlaf-Kack-Streitigkeit wird. Meine persönliche Präferenz für Onlineveranstaltungen kann ich als alter gehemmter Intro wohl nicht verallgemeinern. Keimphobiker haben jetzt natürlich die Zeit ihres Lebens, bilden aber eine Minderheit, würde ich mal so behaupten. Also, Corona, was kannst du? An dieser Frage müssen wir uns alle in unserer kalten kapitalistischen Gesellschaft messen, also sorry, aber um die kommst auch du nicht rum. Also schieß los, gib mir deine Qualifikationen, schmeiß dein Curriculum vitae rüber, widerlege sie alle, die dich ausbuhen und dir wahrscheinlich schon längst ein Bömbchen zukommen lassen hätten, wenn man/frau nur irgendwo deine Adresse finden könnte. 

Auf ein persönliches Treffen würde ich, mit Verlaub, gern verzichten. Auch wenn deine viel beschworenen Kräfte sicherlich sehr eindrücklich sind. Danke, aber nein. 

So sitze ich hier und warte. Auf deine Antwort. Oder darauf, dass du verschwindest. Je nachdem, was früher passiert. 

Liebe Grüße? Nee, tut mir leid. 

In Irritation,

Caro


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Freistrampeln

Wenn das Leben zur Ruhe kommt, nicht mehr nur fordert und Aufmerksamkeit verlangt und ständiges Probleme-Lösen, wird Raum frei. Der Kopf wird frei von Nöten, die drücken, zerren, reißen. Der Boden ist geebnet zum Entstehen von Neuem oder Wiederaufleben von Altem; der Blick öffnet sich für das, was um einen herum geschieht. Ich atme durch, erst vorsichtig, misstrauisch, so, als müsste ich erst testen, ob die Luft auch wirklich rein ist. Ob der Stille zu trauen ist oder sie nicht doch jäh durch einen Knall zerrissen wird. Dann hole ich tiefer Luft. Atem fließt ein, Atem strömt aus. Langsam, gleichmäßig, rhythmisch. Befreiung. Wieder Da-Sein statt immer etwas Hinterher Rennen. Die Hände wieder frei haben, um zu Handeln, statt nur zu Reagieren oder stumpf Auszuharren und zu Erdulden. Leben statt Warten. Jetzt. 

Immer mal was Neues

Neu anzufangen erfrischt beim zweiten oder dritten Mal noch fast genauso wie beim ersten. Warum mache ich es dann so selten? Weil es wie ein Sprung in den See ist: Nicht nur erfrischend, sondern auch bezitternd, einschüchternd, Überwindung kostend. Dann doch lieber das gute Alte, Bekannte. In unseren Routinen haben wir uns heimelig eingerichtet, fühlen uns sicher. Hat bisher geklappt, wird es also auch in Zukunft. Was neu ist, ist fremd, will erstmal vorsichtig begutachtet und überprüft werden. Schließlich kann es auch schief gehen, und wo landen wir dann? Offenes Ende.  Der Trugschluss dabei: Ganz oder gar nicht. Ich glaube, mich entscheiden zu müssen, und mit der Wahl des Neuen zwangsläufig das Alte zu verlieren. Unwiederbringlich. Das ist aber seltenst der Fall. Weitaus häufiger können wir erstmal einen Zeh ins kalte Wasser halten und bei maximaler Abstoßung unmittelbar zurück in den Schutz des warmen weichen Handtuchs fliehen.  Trotzdem gibt es natürlich einige Tätigkeiten...
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