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Die Guddis des Alltags

 Gerade halte ich mich einen nicht unbeträchtlichen Teil meiner Zeit in Konjunktiven auf: Was wäre, wenn.... (kein Shutdown wäre, ich Freunde hier hätte, ich nichts für die Uni machen müsste,... hier lassen sich beliebige aktuelle Probleme oder Wehwehchen/Mimichen einsetzen.) 

Oder in der Zukunft: "Wenn der Shutdown endet, dann werde ich ENDLICH wieder...." Zu dieser Frage habe ich kürzlich eine kleine Umfrage in meinem Bekanntenkreis gestartet. Unter den Ergebnissen war wenig Überraschendes und viel Geteiltes: Freunde in Gruppen sehen, Genussgetränke - ggf. auch in speziell dafür vorgesehenen Lokalitäten - konsumieren, Freunde in anderen Städten besuchen, ... Die Antworten kamen schnell und präzise. 

Ist diese Vorfreude der Brennstoff, der uns gerade warm hält? Oder verhindert sie das Dasein im aktuellen Moment, das Nutzen dessen, was da ist? Zum Beispiel sich mal auf all die verschiedenen Stimmungen und Anteile unseres Selbst einzulassen und die mal ganz neugierig anzuschauen? Da sein werden sie nämlich auch nach dem Shutdown und vielleicht können wir bis dahin ja etwas von ihnen lernen. Sei es nur, dass ich nach dem Mittagessen immer ein Stimmungs- und Konzentrationstief habe, das gegen 14.45 bzw. mit einem Tässchen dunkel braunem Lebenselixir zuverlässig verschwindet. Damit kann ich vielleicht noch mein ganzes Leben arbeiten: Keine komplizierten Gedankenkonstrukte nach dem Mittagsschlämm, dann lieber gegen Spätnachmittag. 

Bevor ich jetzt meinen Biorhythmus hier erörtere (mag gerade auch wenig los sein, aber so gelangweilt könnt ihr gar nicht sein, dass euch das interessiert), komme ich zu dem Punkt, den zu machen ich eigentlich in diesem Text intendierte: Es gibt auch Nettes. Wenig Außergewöhnliches oder Noch-nie-da-gewesenes, aber doch ein paar ganz knuffige Plüschigkeiten (oder wie auch sonst ihr unglaumouröse Dinge charakterisieren möchtet). 

Bei mir sind das zum Bleistift: 

- Ich glaube, ich habe es nur schon etwa drölf mal erwähnt: Kreuzworträtsel. Werden zwar mit zunehmender Übung deutlich leichter, aber bleiben unterhaltsam. Für Sudokus scheine ich geistig ein wenig zu einfach gestrickt zu sein.

- auch wenn mittlerweile geflohen: SCHNEE! Wer hätte das gedacht? (Ich nicht.) Der hat mich jeden Morgen beim Hochziehen des Rollladens erneut entzückt. Ich habe wirklich, wirklich, wirklich dieses Jahr nicht mit Schnee gerechnet, und schon gar nicht im niedrigen Jena, und doppelt nicht damit, dass er liegen bleibt. Welch Wonne!

- wie besonders und herausstechend auf einmal Treffen mit Freunden bzw. Familie sind, und sei es auch draußen. Die Wärme und Verbundenheit sind für mich die Sonnenseite der sozialen Deprivation. Letztere äußert sich nicht plötzlich, nicht als stechender, akuter Mangel. Vielmehr schleicht sie sich langsam und zunächst unterschwellig als diffuses dumpfes feucht-kaltes emotionales Bauchweh ein. Sie bleibt. Sie nagt. Sie lässt sich durch Telefonate kurzfristig und oberflächlich betäuben. Ähnlich wie beim Schmerzmittel verklingt der Effekt aber bald und zurück kehre ich in die schale Realität. Bis plötzlich die Temperaturen steigen - welch ungewollte Metapher - und ich mich mit einer Freundin in der Stadt treffen und länger als für die Dauer eines zügigen weil zugigen Gangs um den Block mit ihr unterhalten kann, sodass sowas wie ein echter Kontakt (nicht physisch, natürlich) zustande kommen kann. Wie konnte ich das mal für selbstverständlich halten? 

- Siebträgerkaffee bzw. -cappuccino. Ein Beben der Euphorie erschüttert nicht nur meine armen Synapsen (so viele Wochen der qualvollen Entwöhnung des Suchtstoffs - umsonst...?), sondern auch meine Geschmacksknospen. Lord, Jesus und wer da sei, danke für so eine Substanz. Das Leben kann prächtig sein. Bis die Koffeinkurve abflacht. Aber schön war's. 

- eine stabile Internetverbindung. Ermöglicht nicht nur ungestörtes (nun ja, ungestört auch nur in Bezug auf die technischen Möglichkeiten, die selbst verursachte durch besagte Genussgetränke und den Herrn Prokrastinus sei hier mal unter den Tisch gekehrt) Teilnehmen an Online-Veranstaltungen, sondern auch grenzenlosen Konsum hedonistischen Online-Materials, gerade auf einschlägigen Plattformen für Videos. Ich hätte sonst wohl nie die Bandbreite an Inhalten auf besagter Plattform entdeckt und bin auch jetzt nur mit einem Bruchteil der schier unendlichen Vielfalt in Kontakt gekommen. 

- ein funktionierendes Mobiltelefon

- Mitbewohnende (einer reicht, wenn es ein qualitativ hochwertiger ist). 

- Raumdufter

- soooo viel Zeit für Hedonismus

- Schlaf. So schön.

- Flanellbettwäsche

- kurze Wege (Man muss ja auch nirgendwo hin, wenn man nicht gerade Fernfahrer ist). 

- Heizungen. Das High-End-Produkt schlechthin: Fußbodenheizungen. Wäre ich eine coole Instagramerin, würde ich jetzt hier ein #lifegoals dahinter setzen. Huch, ich habs ja getan. 

- Handwärmer (ja, genau, diese Knickdinger für die Jackentasche)

- Sprudöööööööööl

- Reportagen der Öffentlich-Rechtlichen, die eindeutig auf ein älteres Publikum zugeschnitten sind (ich bin auch so eine Kandidatin für Kaffeefahrten, wenns das in meiner Rente noch gibt)

- aus dem Fenster starren. Vor allem bei Regen oder Schneefall. Man sollte aber darauf achten, ungesehen zu bleiben. Falls doch: Gnadenlos weiterstarren. 

- Pomelos - was ist das denn für ein Paradiesapfel (bzw. -melone, so von der Größe her)? Trotz meiner Stammkundschaft im Obsthimmel ist mir dieses Götterfrüchtchen noch nie untergekommen. Schade, dass sie aus weiter Ferne kommt. Wird wohl ein Guddi für besondere Anlässe bleiben. Wichtig: Betonung auf dem ersten o. Ja, ich weiß, das ist falsch, aber es klingt so drollig.

- Kapuzensweatshirts. Auch Nicht-Gangster habens gern mollig um die Birne. 

- Waschmaschinen. Ratzefatz und so effektiv. 

- dazu passend: der Geruch frisch gewaschener Wäsche. 

- Sofae. Ja, das ist der korrekte Plural von Sofa. Nur falls ihrs nicht wusstet. 

- sich nicht verstellen müssen. Nein, ich bin nicht immer gut drauf und ja, da ist ein Fleck auf meiner Strumpfhose und nein, das juckt mich nicht im Geringsten. 

- das Ploppen, wenn man eine Bügelflasche öffnet.

- Holzboden

- dass im Kühlschrank immer Licht ist

- Fertigsoßen und -dips mit vielen bunten Geschmacksverstärkern mit langen Namen 

- Kerzen. Dass ich das mal sage. Bald kommt der Thermomix. Dann ist es auch nicht mehr weit zum Dackel und in letzter Konsequenz zum Kind. Oh Gott, was passiert hier gerade....

- Klausurenzeit. Ach so, nee. Doch nicht so geil. 

- Podcasts. Manchmal nur, damit überhaupt jemand mit mir redet (traurig aber wahr), manchmal aber auch spannend und informativ. 

- farbige Dinge, zB bunte Pullis, rote Regenschirme, gepunktete Rucksäcke

- Tassen und Schüsseln mit pseudo-witzigen Sprüchen

So, Freunde der Sonne (was für ein bescheuerter Ausdruck eigentlich in einem Land, in dem jene mindestens ein halbes Jahr allenfalls sporadisch auftaucht), nu langts. Wer bis hierhin gekommen ist, bekommt nen Schokoriegel von mir geschickt (bitte dazu nur Adresse in einer Nachricht schicken). 

Immer noch würde ich mich sehr freuen, an euren Höhepunkten und kleinen Freuden des derzeitigen Lebens Anteil nehmen zu dürfen. Gern auch in einer privaten Nachricht. 

Gehabt euch wohl. 

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Freistrampeln

Wenn das Leben zur Ruhe kommt, nicht mehr nur fordert und Aufmerksamkeit verlangt und ständiges Probleme-Lösen, wird Raum frei. Der Kopf wird frei von Nöten, die drücken, zerren, reißen. Der Boden ist geebnet zum Entstehen von Neuem oder Wiederaufleben von Altem; der Blick öffnet sich für das, was um einen herum geschieht. Ich atme durch, erst vorsichtig, misstrauisch, so, als müsste ich erst testen, ob die Luft auch wirklich rein ist. Ob der Stille zu trauen ist oder sie nicht doch jäh durch einen Knall zerrissen wird. Dann hole ich tiefer Luft. Atem fließt ein, Atem strömt aus. Langsam, gleichmäßig, rhythmisch. Befreiung. Wieder Da-Sein statt immer etwas Hinterher Rennen. Die Hände wieder frei haben, um zu Handeln, statt nur zu Reagieren oder stumpf Auszuharren und zu Erdulden. Leben statt Warten. Jetzt. 

Immer mal was Neues

Neu anzufangen erfrischt beim zweiten oder dritten Mal noch fast genauso wie beim ersten. Warum mache ich es dann so selten? Weil es wie ein Sprung in den See ist: Nicht nur erfrischend, sondern auch bezitternd, einschüchternd, Überwindung kostend. Dann doch lieber das gute Alte, Bekannte. In unseren Routinen haben wir uns heimelig eingerichtet, fühlen uns sicher. Hat bisher geklappt, wird es also auch in Zukunft. Was neu ist, ist fremd, will erstmal vorsichtig begutachtet und überprüft werden. Schließlich kann es auch schief gehen, und wo landen wir dann? Offenes Ende.  Der Trugschluss dabei: Ganz oder gar nicht. Ich glaube, mich entscheiden zu müssen, und mit der Wahl des Neuen zwangsläufig das Alte zu verlieren. Unwiederbringlich. Das ist aber seltenst der Fall. Weitaus häufiger können wir erstmal einen Zeh ins kalte Wasser halten und bei maximaler Abstoßung unmittelbar zurück in den Schutz des warmen weichen Handtuchs fliehen.  Trotzdem gibt es natürlich einige Tätigkeiten...
 This week's insights (so far): - Stress and worries are subjective perceptions. What you consider an easy task might be a tough challenge for me. Everyone has their own threshold for when things get too much or too difficult to handle.  - Coffee helps. Almost always. Except from when trying to fall asleep.  - Spending time with friends and family is nice, but when introverts don't get enough alone time, we can't enjoy others' company either. Fill your batteries first. There's no obligation to be sociable all the time. - Shitty days can get better. The next day at the latest.  Maybe not what spring looks like, but a hommage to the grandiosity of beds - Wrapping yourself in the soft coat of sleep can magically remove worries overnight.  - Spring hasn't come yet. So let's enjoy the last days of winter doing what we will be too busy to do during summer: Drinking tea, reading the newspaper, streaming videos and wearing woolen socks.