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Warum man Bolivianer moegen muss

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Typisch deutsch- das ist für mich, nun mit etwas Abstand, Pünktlichkeit, Ordnung, Büokratie, Industrie (oder arbeitet ihr in eurer Freizeit gelegentlich auf dem Feld? ;) ) und eine gewisse kühle – nennen wir es Distanz. Checkt man in einem Hotel ein, werden eingeübte Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht, auf den Cent genau bezahlt und sachlich die Details abgeklärt. In den meisten Buden in Bolivien sucht man erstmal den Verantwortlichen oder dessen Schwester, Schwiegersohn oder Neffen dritten Grades. Der kommt verpennt, mit drei Kindern im Schlepptau oder im weiblichen Falle mit Lockenwicklern in der Frise angelatscht.  Man wirft sich Satzfetzen zu, der Preis hängt von der Bereitschaft des „Verantwortlichen“ zur Verhandlung ab. Niedergeschrieben wird hier außer dem Namen des Gastes meist nichts. Von Anfang an ist man auf Du und meist ist auch ein kleines Pläuschchen im Zimmerpreis enthalten.
Gutes Essen hat Prioritaet
Wenn der Bolivianer Fremdes oft mit einer Mischung aus Misstrauen und leichter Ablehnung beobachtet, siegt am Ende die Neugierde. „Woher kommst du? Wie ist Deutschland?“ Ja, wie ist Deutschland? Anders. Kälter. Schnee. Es gibt quasi für alles die entsprechende Maschine. „Wie lange fährt man mit dem Bus nach Deutschland?“ Mit einem Unterseebus könnte das ein Weilchen dauern, ohne endet man wahrscheinlich wie die Titanic.
Wenn die Neugier der Bolivianer groß ist, dann hat ihr Herz die Größe eines Fußballfelds. Was man an Essbarem hat, und sei es auch wenig, wird geteilt. So oft, wie einem ein Glas mit alkoholhaltigem Inhalt unter die Nase gehalten wird, ist man nach einer Stunde in einer boliche (Tanz- & Trinkschuppen) jedermanns Freund und blauer als der Elefant aus der Sendung mit der Maus. Abschlagen gilt nicht. Ebenso wenig wie Einladungen zum Tanz. Auch mit zwei linken Füßen oder ohne Hüfte hat man sich auf die Tanzfläche zu schleifen. Ja, liebe Skeptiker, diese Freundlichkeit ist nicht immer echt. Aber das muss das Gegenüber ja nicht wissen ;)

Wo wir bei Kritik sind: Die ist hier schwerer verdaulich als halbrohes Fleisch. Sich gegenseitig sein Fehlverhalten aufs Brot zu schmieren, ist nicht üblich und kann bei dem Kritisierten eine mittelschwere Krise auslösen. Hat man etwas falsch gemacht, wird zwar hinter vorgehaltener Hand darüber getuschelt, man selbst bleibt ahnungslos. Als ich anfangs den Boden wischte, stand er regelmäßig unter Wasser, bis mir vorsichtig die Funktionsweise des Mopps nähergebracht wurde. Das mag im Alltag einiges erschweren, vermeidet aber beleidigte Leberwürste.
Nächstenliebe und Bescheidenheit wird hier groß geschrieben, was nicht zuletzt auf die alles dominierende Rolle der Kirche zurückzuführen ist. Ich kann gar nicht zählen, wie oft der Segen der Jungfrau Maria hier gewünscht wurde. Da die katholische Kirche, wie wir vermutlich alle mal haben munkeln hören, vorsichtig ausgedrückt nicht so begeistert ist von Themen wie Homosexualität, Abtreibung oder Selbstmord, trifft man hier mitunter auf recht krasse Ansichten. „Die Natur hat Mann und Frau zur Fortpflanzung ausersehen, darum sind gleichgeschlechtliche Paare gegen die Natur.“ Das Totschlagargument für Homophobie. Dass sich Männlein und Weiblein hier vielleicht ein bisschen früh „paaren“ und mit 15 und ohne Ausbildung kleine Gottessöhne in die Welt setzen… Na ja. Das ist ein anderes Thema.

Familie ist hier alles. Halb Comarapa ist über beliebig viele Ecken miteinander verwandt, sodass bei Familienfesten auch immer die halbe Dorfbevölkerung aufläuft. Wunderbar, um sich über den neuesten Tratsch zu informieren und Gerüchte ins Unendliche zu verdrehen.
Nach Familie und Glaube kommt direkt die Arbeit, mit der der durchschnittliche Bolivianer deutlich mehr als die in Deutschland Burnout-gefährendenden 40 Stunden die Woche verbringt. Urlaub? Is nich. Man wohnt, isst und quatscht an der Arbeitsstelle. Manchmal frage ich mich, ob die Ausstattung des bolivianischen Körpers mit Schlafhormonen vergessen wurde.

Erlebe ich diesen Elan, die Seelenruhe, mit der Bolivianer „Probleme“ (oder die deutsche Definition davon) angehen und die Fröhlichkeit, die sie trotz harter Lebensumstände versprühen, komme ich mir undankbar vor und verurteile mein Jammern. Vielleicht ist das eines der vielen Dinge, die ich in diesem Jahr gelernt habe. Meistens ist es nicht so schlimm, wie wir es uns ausmalen.

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