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Mein Sofa und ich

Wer rastet, der rostet. Das scheint das Dogma unserer Zeit zu sein. Der Mensch von heute macht möglichst viel in möglichst kurzer Zeit, ist stets auf der Suche nach neuen Projekten und entwickelt sich konstant weiter. Stillstand ist Tod, schwingt dabei nicht nur im Subtext mit. Es wird explizit benannt, erklärt, man wolle "mal was Neues ausprobieren", "in XY besser werden" oder brauche dringend "neuen Input". Das Bedürfnis, dass Dinge einfach mal so bleiben, wie sie sind, wird als konservative, reaktionäre oder einfach spießige Persönlichkeitseigenschaft deklamiert. 
Wen die ständige Neuerfindung glücklich macht, der/die darf gerne weiter rödeln. Für mich trifft die Gleichung "Bewegung = Zufriedenheit" nicht zu. Unter zehn Aktivitäten oder Dingen, die ich ausprobiere, empfinde ich maximal zwei als stimmig. Demgegenüber gibt es Tätigkeiten, denen ich schon seit 15 Jahren nachgehe, und das sogar gerne. Lesen. Schlafen. Spazieren. ZDF-Sendungen schauen. Musik hören, Singen, Rätseln, Schreiben. Auf dem Sofa sitzen und mit meinen Mitbewohni(s) quatschen. Schlechte Witze machen. Kino. 
Ich, ein altes Haus

Muss ich Klettern, Yoga machen, Burger essen gehen, Feiern, Workshops zu Ressourcenentfaltung besuchen, Rennrad fahren, Analog Fotografieren, Kinder bekommen oder ein Festival organisieren, um ein erfüllendes Leben zu führen? Ich habe etwa die Hälfte dieser Aktivitäten ausprobiert und habe mich mit keiner wohlgefühlt. Dennoch empfinde ich einen gewissen Druck, das alles mal gemacht haben zu müssen oder gar regelmäßig zu betreiben. Einmal im Jahr zum Surfen nach Portugal. Einmal pro Monat in den Club. Eine offene oder polyamore Beziehung und eine selbst eingerichtete Wohnung im Leben. Ein Praktikum bei einem Startup und einmal Improtheater ausprobiert (das hab ich sogar gemacht, und es war leider auch nix für mich). Ich sage nicht, dass das nicht funktionieren kann mit dem Glück der kontinuierlichen Selbstentfaltung. Nur merke ich, dass ich dabei auf der Strecke bleibe. Ich hetze so einer Form hinterher, in die ich zu passen habe, dass ich zeitweise zu fragen vergesse: Bin das eigentlich Ich oder eine Version von mir, die nach außen schick aussieht, innen aber immer leerer wird? 
Vielleicht würde aus mir ein vielseitiger Mensch mit einem bunten Portfolio an Hobbies und Erfahrungen werden, wenn ich nicht so nötig meine morgen- und abendlichen zwei Stunden allein, in Ruhe, im Warmen bräuchte. Ja, brauche. Sonst erstickt was, was nur dann atmen kann. 
Vor wem rechtfertige ich mich hier? Vor euch? Vor mir? Davor, dass ich ein äußerlich faul und stagnierend anmutendes Leben führe? Vielleicht. 
Vielleicht ist aber die Freude, die Menschen auf dem Weg nach Portugal in ihrem selbstausgebauten Camper empfinden, dieselbe, die ich im Zug nach Dresden empfinde. Das Gleiche, nur in Klein. 

Die Frage, um die es doch eigentlich geht

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